Selbsterfahrung und Psychotherapie – Ich begegne mir selbst!
Ich bin Selbst
Nachdem ich gelernt und geübt habe mich selbst zu beobachten, mein Verhalten wahrzunehmen, den Nutzen meiner Gewohnheiten zu verstehen, meine Überzeugungen und deren Herkunft sowie meine grundsätzliche Haltung zu begreifen ist es mir allmählich möglich auf Distanz zu gehen und mich aus der Identifikation mit meiner Persönlichkeit (Ich) zu lösen. Die Kulissen, Kostüme und Masken, die ich für mich erschaffen habe bleiben mir erhalten und ich kann sie bewusst einsetzen, wenn es notwendig ist mich zu schützen, aber sie versperren mir nicht mehr die freie Sicht, ich kann jetzt mehr und mehr Selbst sein!
Was ist Selbst?
Wir alle wurden als Selbst geboren und waren in diesem Seinszustand trotz der bereits erfahrenen Prägungen, Konditionierungen und Traumatisierungen, der Einheit näher als der Polarisation (Ich und Du).
Bei Wikipedia steht dazu: „Selbst ist ein uneinheitlich verwendeter Begriff mit psychologischen, pädagogischen, soziologischen, philosophischen und theologischen Bedeutungsvarianten.“ Dazu kommt dann noch eine grammatikalische Bedeutung, dazu steht im Duden: „… weglassbare Beistellung im (nominalen, …) Satzglied, die meistens im gleichen Kasus wie das Bezugsnomen steht und auf den gleichen Sachverhalt, die gleiche Person oder Ähnliches verweist (ich selbst, mich selbst, mir selbst, und so weiter).“
Selbst kann nicht für alle in gleicher Weise definiert werden. Selbst ist psychologisch, philosophisch, theologisch sowie traumatologisch und so einzigartig und individuell wie jeder von uns. Um irgendwann Selbst sein zu können muss jeder herausfinden aus welcher Richtung er sich Selbst, als seinen ursprünglichen Seinszustand, annähern kann.
Beginnen wir an unserem Anfang:
Bevor wir gezeugt werden sind wir Geist, eins mit allem und auf ewig untrennbar mit das Alles1) verbunden, auch nach Zeugung und Geburt. Das bedeutet, Geist inkarniert sich nicht als Selbst und Ich, sondern bleibt als Beobachter oder höheres Selbst unsere Verbindung zum großen Ganzen. Manchmal wenn wir ganz still sind können wir Geist als innere Stimme hören.
Geist ist mit Selbst verbunden und Selbst ist mit Ich verstrickt! Die Überlebensstrategie Ich ist zwischen Ich-Zentrierung (Egozentrik) und Ich-Ablehnung (Altruismus) polarisiert. Selbst ist in der Spannung zwischen den Polen paralysiert.
Selbst entsteht
Mit der Verbindung von Ei und Spermium entsteht Selbst. In diesem Prozess werden die Gene unserer Eltern, entweder vorbestimmt oder zufällig, gemischt. Wir werden weiblich oder männlich und erben bestimmte organische sowie optische Merkmale. Zusätzlich werden epigenetische Informationen übertragen. Die Epigenetik regelt welche Gene der DNA2) in einer Zelle eingeschaltet sind und bestimmt so: die Funktion der Zelle, wo im Körper sie angesiedelt ist und welche Krankheiten, Potentiale, Talente, Erinnerungen und Gefühle sie beherbergt. Letzteres ist für die Traumatherapie von besonderer Bedeutung.
Die Transgenerationale Übertragung3) von Trauma (Freud nannte das Gefühlserbschaft) ist mittlerweile wissenschaftlich gut erforscht. Es gilt als belegt, dass unbewältigte traumatische Erfahrungen in Form von Gefühlen, Erinnerungen, Verhalten, Gewohnheiten, Überzeugungen und Haltung über mindestens drei Generationen weitergegeben (vererbt) werden. So kommt es, dass wir uns an schreckliche Ereignisse erinnern oder plötzlich Gefühle wie Schuld, Angst oder Trauer empfinden ohne einen Zusammenhang zu uns selbst oder unserem Leben herstellen zu können, manchmal sind wir uns regelrecht fremd.4)
Selbst wird also bereits im Entstehungsprozess durch Posttraumatische Belastungsstörungen überlagert und an der freien Entfaltung gehindert. Die nächste Entwicklungsstörung entsteht durch die Emotionen, Gefühle und Belastungen der Mutter. Mit jeder dieser Störungen entwickeln wir Emotionen wie Angst oder Trauer, psychische Störungen wie Verhaltensstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten sowie Unzulänglichkeiten und körperliche Funktionsstörungen anstelle von Emotionen wie Liebe oder Freude, psychischer Gesundheit, Potentialen und Resilienz.
Die epigenetische Erstausstattung wird während der Schwangerschaft, der Geburt und danach durch das Milieu in dem wir aufwachsen mit eigenen prägenden sowie traumatischen Erfahrungen ergänzt beziehungsweise fortgesetzt. Mit diesem Paket beladen haben wir jetzt ein Leben vor uns, das gelebt werden muss. Um das bewältigen zu können erschaffen wir Ich als Überlebensstrategie.
Warum Ich?
Um in meinem Milieu überlebensfähig zu sein muss ich lernen mich von Selbst getrennt wahrzunehmen, mich anzupassen und mir meine Rolle anzueignen. In diesem Prozess entstehen die Kulissen, Kostüme und Masken mit denen ich von nun an auftrete.
Alles, was ich in meinem Leben getan oder nicht getan habe, alles was mir angetan wurde und jede Erfahrung, die ich gemacht habe ist untrennbar mit mir verbunden. Das beeinflusst mich, formt mich, ist wichtig und hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin – es ist meine Identität. Ich kann nichts davon aus meinem Leben oder meinem System löschen, aber ich kann herausfinden, was davon ein wahrhaftiger Teil von mir ist und womit ich mich lediglich identifiziere.
Das, was Ich lebt – bin ich nicht! Ich täusche mir und anderen ein Sein vor, dass nicht der Realität entspricht!
Ich beginnt sich direkt nach der Geburt zu entwickeln, zuerst als Reaktion auf das Milieu in dem ich leben muss und später aus eigenem Antrieb, beispielsweise während einem Persönlichkeitstraining. Persönlichkeitstrainings sind der Versuch Ich besser zu machen. Je perfekter meine Persönlichkeit gestaltet ist umso erfolgreicher verläuft mein Leben, aber es wird nie Selbst sein das lebt, sondern lediglich eine erfundene Persönlichkeit.
Die Gewohnheit und das Leben selbst führen dazu, dass ich mich mehr und mehr mit Ich identifiziere und irgendwann glaube, dass Ich alles ist was ich bin. Irgendwann, wenn mir Zweifel daran kommen, dass das alles ist – kann die zweite Entwicklungsphase beginnen.
Von Ich zu Selbst
Ich habe meine Haltung, meine Überzeugungen, meine Gewohnheiten und mein Verhalten jetzt schon einige Zeit beobachtet und Ich, in unterschiedlichen Rollen kennengelernt. Ich habe begonnen mich aus der Identifikation mit meiner Persönlichkeit zu lösen und von meinen Kulissen, Kostümen und Masken zu befreien. Ab und an kann ich jetzt einen Hauch von Selbst wahrnehmen und für Momente auch mal Selbst sein. Dieser Entwicklungsprozess verläuft nicht gleichmäßig und Zielorientiert, sondern chaotisch und Erkenntnisse wirken fast zufällig. Dazu kommt, dass ich Angst vor Selbst habe, schließlich musste ich es einst verleugnen um zu überleben.
Jetzt ist ein idealer Zeitpunkt um meine Selbsterfahrung und meine Therapie sorgfältig zu analysieren.
- Was habe ich bis hierhin erreicht?
- Was habe ich verstanden?
- Was habe ich erkannt?
- Was habe ich begriffen?
- Welches Verhalten habe ich geändert?
- Welche Gewohnheit habe ich aufgegeben?
- Welche Überzeugung habe ich als fremd erkannt?
- Habe ich gelernt aus mir heraus Haltung zu zeigen?
- Bin ich zufrieden mit dem was ich erreicht habe?
Ich nehme mir Zeit um über diese Fragen gründlich nachzudenken und höre mir selbst aufmerksam zu. Ich antworte aufrichtig und kompromisslos, ich schone mich nicht! Das ist sehr wichtig, weil ich mich jetzt entscheiden muss: „Will ich weitermachen und tiefer gehen, dann muss ich genau wissen wo ich stehe oder genügt mir das was ich bis hierhin erreicht habe? Bin ich zufrieden?“ Die nächste Phase der Selbsterfahrung und der Therapie wird intensiver, kompromissloser, anstrengender, schmerzhafter und unberechenbarer! Wen ich es ernst meine kann ich ab hier auf keinen Fall alleine weiter gehen, das würde nirgendwo hinführen – Enttäuschung und Frust wären vorprogrammiert. Spätestens jetzt muss ich mich entscheiden – beginne ich eine solide Traumatherapie oder nutze ich das Erlernte um meinen Alltag zu gestalten und bin damit zufrieden.
Selbst ist erfahrbar
Einen Seinszustand kann ich nicht als Ziel festlegen und über meinen Verstand oder mit einer Methode erreichen – Selbst ist eine Erfahrung. Wenn ich zum Beispiel mein Verhalten beobachte und dabei erkenne was ich mit diesem Verhalten bezwecken will, habe ich etwas über mich begriffen. Im Moment des Begreifens kann ich Selbst erfahren. Mit ganzheitlicher Traumatherapie5) ist es möglich die Verpanzerung aus Trauma, Gefühlen, Verhalten, Gewohnheiten, Überzeugungen sowie Haltung immer wieder zu durchbrechen und vorübergehend Selbst zu sein. Nur aus diesem Seinszustand heraus ist es mir möglich mich von Überlebensstrategien und posttraumatischen Belastungsstörungen dauerhaft zu befreien. So wird die natürliche Ordnung wiederhergestellt, Ich als nützliches Objekt das mir zur Verfügung steht, wenn ich es brauche und Selbst als Subjekt – meinem ursprünglichen Seinszustand.
Fazit
Das sind viele Worte um etwas zu beschreiben, das nicht direkt beschrieben werden kann.
Selbst ist hinter Schichten aus Trauma, Emotionen, Gefühlen, Verhalten, Gewohnheiten, Überzeugungen sowie Haltung eingemauert (Verpanzerung), aber Selbst ist nicht unerreichbar. Ich habe immer mal wieder wache Momente in denen ich besonders gut drauf und ganz bei mir bin, Momente in denen alles passt. Auch wenn ich mir der besonderen Bedeutung nicht bewusst bin, in diesen Momenten bin ich Selbst.
Durch aufmerksames Beobachten meines Verhaltens, meiner Gewohnheiten, meiner Überzeugungen und meiner Haltung sowie aller Emotionen und Gefühlen die ich ausdrücke beziehungsweise unterdrücke erfahre ich etwas über mich. Manchmal macht es „klick“ und ich habe eine Erkenntnis. Jede Erkenntnis öffnet eine Lücke in der Verpanzerung, wenn ich in diesen Momenten Aufmerksam und bereit bin kann ich Selbst erfahren. Diese Selbsterfahrung führt zu einer dauerhaften Veränderung.
Mit der Zeit höre ich auf mit mir zu fremdeln, entwickle ein gutes Selbstverständnis und ein gesundes Selbstverhältnis – die Grundlage für lebendige Beziehungen.
Das Ziel ist Menschlichkeit!
1) Das Alles ist ein Begriff aus der Hermetik, er steht für alles was ist, im Universum, in uns und überhaupt einfach alles. Andere nennen es Gott oder Existenz, das Alles ist in meinen Augen genauer, treffender, richtiger und weniger missverständlich.
2) Ein paar Zusatzinformationen findest Du hier: https://esdifferent.com/difference-between-gene-and-dna
3) Vertiefende Informationen findest Du in folgendem Text auf ganzheitlichetraumatherapie.de: Transgenrationale Übertragung
4) Die vereinfachte Darstellung von Transgenerationaler Übertragung und Epigenetik in diesem Text kann und will der Komplexität dieser Thematik nicht gerecht werden.
5) Detaillierte Beschreibungen der ganzheitlichen Traumatherapie kannst Du hier lesen: https://ganzheitlichetraumatherapie.de/