Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich nicht mich selbst – ich sehe die Person, die ich nach all meinen Erfahrungen, Prägungen, Konditionierungen und Verletzungen geworden bin. Ich sehe die Maske (das Image, das Kostüm, die Rüstung), die ich entwickelt habe um mich zu schützen, nicht aufzufallen, dazu zu gehören, geliebt und anerkannt, aber nicht erkannt zu werden. Ich sehe die Person – mit der ich mich identifiziere.
- Bin ich glücklich, so wie ich bin?
- Will ich dieser Mensch sein?
- Will ich so gesehen werden?
- Bin ich zufrieden, so wie ich bin?
- Wer bin ich wirklich?
- Will ich so mit anderen Menschen umgehen?
- Will ich, dass andere so mit mir umgehen?
- Wie bin ich wirklich?
- Genügt mir die Nähe, die ich zulassen kann?
- Genügt es mir so zu lieben, wie ich das tue?
- Genügt es mir, so geliebt zu werden?
- …
Ich stelle mir diese Fragen, weil mir aufgefallen ist, dass etwas nicht stimmt. Ich kann es noch nicht benennen – aber irgendwas fühlt sich nicht richtig an.
Wer bin ich eigentlich wirklich?
Bevor in mir der Wunsch wachsen kann, erkennen zu wollen – wer ich wirklich bin – muss ich an der Person zweifeln, die ich zu sein glaube. Ich muss von meinem Leben, meinen Beziehungen und Vorstellungen enttäuscht worden sein und sie hinterfragen. Ich werde das, was ich herausfinde, schönreden und es vermeiden, wirklich hinzuschauen.
Aber wenn ich mich selbst erkennen will, muss ich mich fragen: Bin ich wirklich diese Person,
- die nach dem Aufstehen ihren Alltag bewältigt und ihren Verpflichtungen nachkommt?
- die alles, was nicht zu ihren Gewohnheiten gehört, für bedrohlich hält?
- die samstags immer mit den gleichen „Freunden“ dieses oder jenes tut, weil es halt so ist?
- die mit nichts Erfolg hat, egal was sie tut?
- die nur die Karriere im Kopf hat und um jeden Preis erfolgreich sein will?
- die am Wochenende immer den gleichen Ritualen folgt, weil sie nur so ihre Freizeit genießen und sich erholen kann?
- die zwischen all diesen Routinen und Gewohnheiten nicht mehr spürt, was sie wirklich will oder ihre Gefühle sogar bewusst ignoriert, weil sie den Ablauf stören?
Ich beginne daran zu zweifeln, dass dieses Leben wirklich mein Leben ist. Ganz vage kann ich spüren, dass in mir ein Mensch (fest)steckt der anders ist und dass ich Angst vor ihm habe. Wenn ich diesen Menschen befreie, zerstöre ich alles, was mir vermeintlich lieb und teuer ist. Das ist komplett verrückt: ich bin unzufrieden mit dem was ist, aber ich will es auch nicht aufgeben.
Ich stelle mit Entsetzen fest, dass ich mich selbst überhaupt nicht kenne!
Ich lerne mich kennen!
Ich beginne damit, mich zu beobachten, um mich, mein Verhalten und meine Gewohnheiten besser kennenzulernen und stelle fest, dass das gar nicht so einfach ist. Mir fällt auf, dass ich die meiste Zeit andere beobachte mich selbst aber gar nicht wahrnehme. Immer wenn ich versuche ganz bei mir zu bleiben, verliere ich mich in Gedanken oder steige aus (ich dissoziiere). Oft nur für wenige Sekunden, aber das genügt, um den Kontakt zu verlieren und mein Verhalten nicht zu erkennen. Egal wie ich mich anstrenge, ich verliere den Kontakt immer wieder.
„In einem Trauma-Kollektiv ist Psychotrauma ein Tabuthema, denn das ist das Grundprinzip aller Traumata: Weil ich psychisch traumatisiert bin, kann und darf ich mich selbst und den Zustand meiner Psyche nicht erkennen. In dieser Haltung bestätigen sich traumatisierte Menschen dann gegenseitig und sind dann auch blind für die Realität der anderen und für das, was wirklich läuft – in ihren Beziehungen und in der gesamten Gesellschaft.“ Franz Ruppert Interview – „Traumatisierte Gesellschaft“ | https://www.rubikon.news/artikel/traumatisierte-gesellschaft
Genau in dieser kollektiven Vermeidungsstrategie verbirgt sich die Erklärung sowie der Ansatz einer Lösung für meine Unfähigkeit, mich selbst wahrzunehmen. Wenn wir in der Lage sind, uns gegenseitig darin zu bestätigen, unseren Zustand und uns selbst nicht zu erkennen – können wir uns auch darin bestätigen und unterstützen, uns selbst zu erkennen!
Ich sehe Dich und erkenne mich!
Die Maske, hinter der ich mich vor mir selbst und der Welt verstecke, besteht aus meinem Verhalten, meinen Gewohnheiten, meinen Überzeugungen und meiner Haltung. Es ist nahezu unmöglich, mich aus mir selbst heraus zu erkennen. Ich kann mich selbst nur durch diese Maske sehen und beurteile mich stets so, dass meine Vorstellungen von mir selbst im Sinne meiner Überzeugungen genährt werden. Andere Menschen betrachte ich ebenfalls durch diese Maske und beurteile sie so, dass ich mich in meinen Überzeugungen bestätigt fühle.
In Begegnungen mit anderen geschieht jedoch etwas, das ich nicht direkt beeinflussen kann – sie lösen Gefühle und Empfindungen in mir aus. Von Ablehnung über Aggression und Angst hin zu Anziehung, sexueller Erregung und Liebe kann jedes vorstellbare Gefühl entstehen. Diese Gefühle sind Reflexionen, in denen ich mein Verhalten, meine Gewohnheiten, meine Überzeugungen und meine Haltung erkennen kann. Ich beginne damit, andere mit mehr Achtsamkeit zu beobachten und darauf zu achten, was die Begegnungen mit ihnen, ihr Verhalten, ihre Gewohnheiten, ihre Überzeugungen und ihre Haltung – in mir auslösen. Im nächsten Schritt beobachte ich meine Reaktion darauf und stelle fest, dass ich mein Gegenüber dafür verantwortlich mache (Projektion) – was in mir geschieht. So vermeide ich es erneut mein Verhalten, meine Gewohnheiten, meine Überzeugungen und meine Haltung als meine zu erkennen.
- Ich erkenne mein Verhalten!
- Ich erkenne meine Gewohnheiten!
- Ich erkenne meine Überzeugungen!
- Ich erkenne meine Haltung!
Es dauert einige Zeit und es fällt mir schwer zu verstehen und anzuerkennen, dass ich es vermeide, mein Verhalten, meine Gewohnheiten, meine Überzeugungen und meine Haltung zu erkennen. Ich habe Angst vor dem, was ich da sehen bzw. fühlen könnte und schaue lieber weg. Hinter meiner Maske bin ich sicher, aber eingesperrt. Ohne meine Maske bin ich schutzlos! Wenn ich beginne mein Verhalten, meine Gewohnheiten, meine Überzeugungen und meine Haltung zu erkennen, beginnt meine Maske zu bröckeln.
Ich erkenne mich über Dich!
Ist meine erste Reaktion auf das, was mir mein Gegenüber spiegelt. Wenn es mir ein paar Mal gespiegelt wurde sage ich:
- „So will ich nicht sein!“
Wenn ich mich weiterhin selbst beobachte folgen die Fragen:
- „Warum bin ich so?“
- „Wann bin ich so geworden?“
- „Was versuche ich damit zu kompensieren, zu vermeiden, zu verdrängen oder abzuwehren?“
Diese Auseinandersetzung mit dem, was mir gespiegelt wird und dem, was ich daraus erkenne, führt zu einem umfassenden Ichwissen und stärkt meine emotionale Kompetenz. Jetzt kann ich mich aufrichtig und ernsthaft mit der Frage: „Wie kann ich das ändern?“ auseinandersetzen und werde nach einem Weg und professioneller Unterstützung suchen.
Mut, Geduld und Achtsamkeit
Mich selbst zu erkennen erfordert Mut, Geduld und Achtsamkeit!
Ich brauche Mut,
- weil ich nicht weiß, ob mir das gefällt, was ich erkennen werde.
- weil ich immer wieder an meine Grenzen stoße und Angst bekomme.
- weil ich befürchte, dass ich abgelehnt werde, wenn es alle sehen.
- weil ich Angst habe, nicht mehr dazu gehören zu können.
- weil das mein Leben verändern wird.
- weil ich mich hinter meiner Maske sicher fühle.
- weil meine Maske alles ist, was ich bin.
- weil ich Angst habe, dass danach nichts mehr ist.
Ich brauche Geduld,
- weil ich nur in kleinen Schritten vorankomme.
- weil meine Überlebensstrategien, mein Abwehrverhalten und meine Widerstände mir immer wieder im Weg stehen.
- weil meine Angst mich lähmt.
- weil ich das was ich sehe nicht wahrhaben will.
- weil ich mir selbst im Weg stehe.
- weil ich immer wieder mit Rückschlägen und Stillstand konfrontiert werde.
- weil meine Familie und mein soziales Umfeld mich nicht unterstützen, sondern bremsen.
Ich brauche Achtsamkeit,
- weil es meine ganze Aufmerksamkeit braucht, um mir selbst auf die Schliche zu kommen.
- weil ich sonst übersehe, wenn ich mir selbst etwas vormache.
- weil ich mit meinen Überlebensstrategien, meinem Abwehrverhalten und meinen Widerständen so fest verbunden und verstrickt bin.
- weil meine Überlebensstrategien, mein Abwehrverhalten und meine Widerstände schneller sind als meine Wahrnehmung.
- weil meine Maske so ausgeklügelt und raffiniert ist.
- weil ich mich mit meinem Verhalten identifiziere.
- weil ich überzeugt bin, dass ich meine Maske bin.
- weil mich niemand so geschickt belügt wie ich mich selbst.